Otto Freundlich & vocal ecotism

 

English below!

 

 

 

In diesem Blogbeitrag möchte ich auf eine Audio-Aufnahme aufmerksam machen, in der man die stimmfeld-Soirée vom 25. Februar teilweise nachhören kann. Darin habe ich aus dem schriftlichen Werk des Künstlers Otto Freundlich vorgelesen und nach Anknüpfungspunkten und Parallelen gesucht zwischen seinen Ideen und dem, was wir mit vocal ecotism im Sinn haben. Freundlich lebte von 1878 bis 1943 und war zu seiner Zeit ein relativ bekannter abstrakter Maler und Bildhauer.

 

Als Vorbereitung auf die Lesung hatte ich ein kleines Konzept geschrieben, das aber letztlich nicht zur Anwendung kam. Stattdessen habe ich mehr oder weniger direkt mit der Lektüre begonnen und nach dem ersten, etwas längeren Text in zufälliger Reihenfolge weitere Ausschnitte aus seinen Schriften vorgestellt, kommentiert und mit den Anwesenden diskutiert.

 

Das Konzept kann man unten nachlesen, darin gibt es auch ein paar Infos zu Freundlich.

 

 

Die Aufnahme befindet sich hier:

https://soundcloud.com/stimmfeld/otto-freundlich-1-022025?si=c74c38964dd14be4b2b602939c008550&utm_source=clipboard&utm_medium=text&utm_campaign=social_sharing

 

Überblick über die Aufnahme:

 

 

0:00 – 18:45

 

Vorstellung    a) Thema: Otto Freundlich & vocal ecotism

 

               b) Kalltalgemeinschaft

 

               c) Vita Freundlich

 

 

 

20:05 - 29:00

 

Lesung aus „Die Aktion“ (1918): Welt – Urwelt

 

 

 

29:00 – 34:10

 

Kommentare

 

 

 

34:12 – 38:29

 

2. Teil aus Welt – Urwelt plus Kommentare

 

 

 

38:29 – 44:45

 

Lesung aus „Die Verwandlung der sichtbaren Welt (1921) plus Kommentare

 

 

 

44:45 – 52:40

 

Lesung aus „Feld der Kräfte“ plus Kommentare

 

 

 

52:40 – bis Ende

 

2. Teil Lesung aus „Feld der Kräfte“ plus Kommentare

 

 

 

 

 

Otto Freundlich und die versehrte Welt

 

(Vortrag am 25. Februar 2025 im stimmfeld-Studio)

 

Heute will ich mich mit dem Künstler Otto Freundlich beschäftigen und aus der Perspektive von vocal ecotism fragen, was er uns als Kunstschaffende für den Zu- und Umgang mit der versehrten Welt zu sagen hat.

 

Im Rahmen von vocal ecotism sind wir ja zu der starken Vermutung gelangt, dass es darum geht, ein neues und weniger zerstörerisches Weltverständnis zu entwickeln. Das vorherrschende Verständnis unserer Epoche (des Anthropozäns) zeichnet sich dadurch aus, zwischen der Sphäre der Kultur und der Natur eine scharfe Trennlinie einzuziehen. Philippe Descola hat diese Vorstellung Naturalismus genannt und aufgezeigt, dass diese Idee der zwei relativ unabhängig voneinander existierenden Weltsphären eine ziemlich einzigartige Entwicklung des modernen Europas darstellt – eine Entwicklung, die den Aufstieg Europas als weltbestimmende Region mitbedingt hat. Heute ist deutlich, dass für all die Errungenschaften, die das moderne Denken mit sich gebracht hat, jetzt offenbart ein hoher Preis gezahlt werden muss. Die Biosphäre der Erde ist in Gefahr, so dramatisch gestört zu werden, dass menschliches und nichtmenschliches Leben, wie es im Holozän möglich war, seine Lebensbedingungen verliert.

 

Im Rahmen von vocal ecotism fragen wir, wie wir aus diesem naturalistischen Weltbild aussteigen können, ohne dem Versuch zu erliegen, einfach zu einer älteren Vorstellung zurück zu gehen. Denn das ist nicht möglich. Wir benötigen ein Weltverhältnis, das die Errungenschaften der Moderne nicht aufgeben will. (…)

 

Damit ist natürlich keineswegs ausgeschlossen, sich Anregungen in früheren Zeiten und Kulturen zu suchen. Heute geht es mir aber darum, einen mitten in der Moderne platzierten Versuch zu betrachten, etwas sehr Ähnliches zu machen, wie wir mit vocal ecotism. Dieser Versuch ist mit dem Namen Otto Freundlich verbunden.

 

 

Vita:

 

1878 Freundlich wird in Ostpreussen in eine Jüdische Familie geboren und protestantisch erzogen.

 

1908 er siedelt nach Paris über und wird Teil der dortigen Künstlerszene am Montmartre, später Montparnasse.

 

1914 in Köln, Verbindung mit der Kölner Kunstszene, die bis in die 30er Jahre sehr eng blieb

 

1924 wieder nach Paris

 

1938 eine besondere Ausstellung, von Kollegen initiiert, die ihm in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Lage helfen wollten.

 

1940 (?) Gurs, Flucht in die Pyrenäen 1942, Festnahme nach Denunziation, Ermordung in Sobibor wahrscheinlich am 4. März 1943.

 

 

Grundzüge des Denkens von Freundlich:

 

Ich finde bei ihm zwei scheinbar gegenläufige Thesen; die eine löst eine gewohnheitsmäßige Verbindung und die andere zeigt eine andere Verbindung auf:

 

a) Die Moderne versteht die ganze Welt und alles in ihr nur noch in Hinblick darauf, was die Dinge und Wesen für uns bedeuten bzw. wie sie für uns nützlich werden können. Doch anders als wir glauben, gibt es in allem eine Seite, die mit uns Menschen nichts zu tun hat, die von uns abgewandt ist. Die nicht-menschliche Welt besteht für sich selbst. Unsere Unterteilung alles Weltlichen in Einzelwesen und Einzeldinge ist verfälscht die eigentliche Struktur der Welt, in der die Einzelwesen nur die Spitze des Eisbergs oder der Pyramide darstellen, und darunter ganz andere Kräfte walten.

 

b) Wir sind als Menschen eingebunden in einen kosmischen Zusammenhang, in dem Kräfte auf uns und alles andere wirken, die wahrzunehmen wir weitgehend verlernt haben. Eben weil wir überall den anthropozentrischen Blick drauf haben – auch in der Kunst, die seit der Renaissance z.B. in der Malerei die Bildinhalte ganz auf die Betrachter ausrichtet. Zentralperspektive usw.

 

Die abstrakte Kunst Freundlichs ist ein Versuch, die von der menschlichen Aufmerksamkeit unabhängigen Bewegungen und Kräfte, die sich sozusagen unterhalb der eindeutig abgrenzbaren Wesen und Dinge sich vollziehen, wieder zu erkennen. (Das klar abgegrenzte und identifizierbare Ding ist ein Produkt des modernen Bürokratismus!) Die abstrakte Malerei zeigt deshalb nicht etwas sichtbare Dinge, sondern sie macht Kräfte und Beziehungen sichtbar.

 

Die abstrakte Kunst Freundlichs ist ein Versuch, die von der menschlichen Aufmerksamkeit unabhängigen Bewegungen und Kräfte, die sich sozusagen unterhalb der eindeutig abgrenzbaren Wesen und Dinge sich vollziehen, wieder zu erkennen. (Das klar abgegrenzte und identifizierbare Ding ist ein Produkt des modernen Bürokratismus!) Die abstrakte Malerei zeigt deshalb nicht etwas sichtbare Dinge, sondern sie macht Kräfte und Beziehungen sichtbar.

 

Der Naturalismus, also die strikte Trennung des menschlichen Kulturraumes von der Natur, die irgendwie da draußen zu sein scheint, hat es erst ermöglicht, dass diese Naturwelt für uns zur reinen Verfügungsmasse wurde. Wir haben uns ja nicht mehr mitgedacht, wenn von Natur die Rede war. (Da müsste man jetzt genauer darauf eingehen, wer dieses „wir und uns“ genau gewesen ist, wahrscheinlich der weiße, europäische Mann.)

 

Und zugleich hat dieses Denken es uns unmöglich gemacht, die tiefere Verbundenheit mit dieser Natur zu ignorieren. Abstrakte Kunst ist für Freundlich der Weg zurück in die Anerkennung dieser Verbundenheit. Das ist nicht nur ein ästhetisches Projekt, sondern vor allem ein ethisches. Erst wenn wir wieder lernen, diese Zusammenhänge von Kräften und Bedingungen, in die wir eingebunden sind, wahrzunehmen, werden die Ungerechtigkeiten auf der Welt – gegenüber anderen Menschen und gegenüber der nicht-menschlichen Welt – überwunden.

 

(Ich habe bei der Lesung einige Textpassagen von Freundlich vorgelesen und zwischendurch kurz kommentiert.

 

Die konzeptuelle Idee dahinter bestand darin, dass ich das Vorgehen von Freundlich bei seinen abstrakten Gemälden und vielleicht mehr noch den Glasmosaiken und -fenstern nachvollziehe und verschiedene Farben seiner Schriften mehr oder weniger zufällig nebeneinander lege, um dann zu sehen, ob sich daraus ein Bild ergibt, in dem die Kräfte, die in den Farben liegen, aufeinander wirken und dem Bild ihre eigene Qualität geben.)

 

 

 

 

Eine Dokumentation der zweiten stimmfeld-Soirée zu Otto Freundlich findet sich auf meiner Website

Dieses Mal habe ich darüber gesprochen, ob es bei Otto Freundlich Anregungen für eine zeitgenössische Idee der menschlichen Stimme und der Stimmkunst zu finden gibt.

Die dazu gehörige Aufnahme auf soundcloud!

 

 

 

 

In this blog post, I would like to draw your attention to an audio recording in which you can listen to part of the stimmfeld soirée on 25 February.

 

In it, I read from the written work of the artist Otto Freundlich and looked for points of contact and parallels between his ideas and what we have in mind with vocal ecotism. Freundlich lived from 1878 to 1943 and was a relatively well-known abstract painter and sculptor in his time.
It is in German, though but below you find a text that I had written in preparation for the reading. In the end it was not used. Instead, I started the reading more or less directly and, after the first, somewhat longer text, in random order, further excerpts from his writings were presented, commented on and discussed with everyone present.

 

The concept can be read below, along with a bit of information about Freundlich.

 

 

 

Otto Freundlich and the wounded world

 

Lecture on 25 February 2025 at stimmfeld-Studio

 

 

Today I want to look at the artist Otto Freundlich and ask what he has to say to us as artists about how we deal with the wounded world from the perspective of vocal ecotism. 

 

In the context of vocal ecotism, we have come to the strong assumption that the whole thing is about developing a new and less destructive understanding of the world. The prevailing understanding of our era (the Anthropocene) is characterised by the drawing of a sharp dividing line between the spheres of culture and nature. Philippe Descola has called this notion naturalism and has shown that this idea of two relatively independent world spheres is a fairly unique development of modern Europe – a development that has contributed to the rise of Europe as a world-dominating region. Today, it is clear that there is a high price to be paid for all the achievements of modern thought. The Earth's biosphere is in danger of being so dramatically disrupted that human and non-human life, the way it has been possible in the Holocene, will lose its conditions for life and survival. 

 

In the context of vocal ecotism, we ask how we can escape from this naturalistic world view without succumbing to the temptation to simply revert to an older one. Because that is not possible. We need a relationship to the world that does not want to give up the achievements of modernity.

 

Of course, this does not in any way exclude the possibility of seeking inspiration in earlier times and cultures. Today, however, I would like to consider an attempt, in the midst of modernity, to do something very similar, as we are doing with vocal ecotism. This attempt is associated with the name Otto Freundlich. 

 

 

I came across Freundlich the first time when I explored the art scene of Köln after WW1. There has been a very interesting attempt to bring life and art together when a small group of artists decided to live in a house in the countryside not far from Köln. Otto Freundlich was a friend of these artists, visited them frequently and stayed in contact as long as it was possible.

 

 

Short Biography:

 

1878 born into a Jewish family in Eastgermany, raised as protestant.

 

1908 moves to Paris, part of the artists scene at Montmartre, later Montparnasse

 

1914 in Cologne, connected with the Cologne art scene, remaining very close with some of the artists until the 1930ies

 

1924 back to Paris

 

1938 exhibition initiated by colleagues to support him during a time of tough poverty for him

 

1940 (?) Gurs, escape to the Pyrenees 1942, arrest after denunciation, murdered in Sobibor probably on 4 March 1943.

 

 

 

The main features of Freundlich's thinking:

 

I find two seemingly opposing theses in his work; one dissolves a habitual connection and the other presents a different one:

 

 

a) Modernity understands the whole world and everything in it only in terms of what things and beings mean for us or how they can be useful for us. But contrary to what we believe, there is a side to everything that has nothing to do with humans, that is turned away from us. The non-human world exists for itself. Our division of all worldly things into individuals and individual things distorts the actual structure of the world, in which the individuals are only the tip of the iceberg or the pyramid, and very different forces prevail below. 

 

 

b) As humans, we are embedded in a cosmic context in which forces act on us and everything else, but we have largely forgotten how to perceive them. This is precisely because we have an anthropocentric view of everything – including art, which, since the Renaissance, has been orienting the content of paintings entirely towards the viewer. Central perspective, etc. 

 

 

Freundlich's abstract art is an attempt to recognise the movements and forces that occur below the level of clearly definable beings and things, independently of human attention. (The clearly defined and identifiable thing is a product of modern bureaucratisation!) Abstract painting therefore does not show visible things, but makes forces and relationships visible.

 

Naturalism, that is, the strict separation of the human cultural sphere from nature, that somehow seems to be out there, has made it possible for this natural world to become a mere disposable mass for us. We were no longer included when nature was discussed. (At this point, it would be necessary to discuss in more detail who exactly this ‘we and us’ was, probably the white, European man.)

 

 

And at the same time, this thinking made it impossible for us to ignore our deeper connection to nature. For Freundlich, abstract art is the way back to recognising this connection. This is not just an aesthetic project, but above all an ethical one. Only when we learn to perceive the interrelationships of forces and conditions in which we are embedded can the injustices in the world – towards other humans and towards the non-human world – be overcome. 

 

 

 

A documentation of the second Soirée about Otto Freundlich from March 25th 2025, again with a written form in English of my introduction can be found on my website

This time I have talked about the questionif Otto Freundlich gives some ideas for a contemporary concept of the human voice and vocal art.

The recording in German on soundcloud!

 

 

 

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