English below!
In 3Sat kann man gerade eine Dokumentation sehen mit folgendem Titel:
Suiten für eine verwundete Welt
https://www.3sat.de/kultur/musik/suiten-fuer-eine-verwundete-welt-102.html
Angekündigt wird der Film mit dem folgenden Text.
„Für das Filmprojekt "Suiten für eine verwundete Welt" reist die Cellistin Tanja Tetzlaff an Orte, an denen der Klimawandel bereits Realität ist. In dieser Kulisse interpretiert sie Cellosuiten von Johann Sebastian Bach. Der Klimawandel zeigt auch in Europa bestürzende Auswirkungen. Erschüttert von der Bedrohung und Zerstörung will Tanja Tetzlaff mit ihrem Projekt die Natur um Verzeihung bitten.“
Das ist auf den ersten Blick eine Aktion, die viel mit vocal ecotism zu tun hat. Besonders die Idee, sich mit Musik und Stimme direkt an die Welt zu wenden, hat sich in unserem Rahmen als wichtige Erweiterung des stimmlichen Aktionsradius erwiesen, der in früheren Kulturen üblich war und nur nach der strikten Trennung von Natur und Kultur im europäischen Naturalismus an den Rand gedrängt wurde.
Doch das Ergebnis der Aktion der Cellistin Tanja Tetzlaff wirkte auf mich ziemlich ernüchternd. Das Problem liegt darin, dass aus der Aktion ein Film gemacht wurde, in dem man in sehr schönen Bildern die Künstlerin in sehr beeindruckendem Ambiente von schmelzenden Gletschern, abgebrochenen Küstenstreifen oder abgestorbenen Wäldern sitzen sieht und dazu die wunderbare Musik von Bach hört.
Schon durch die Entscheidung, überhaupt einen Film darüber zu machen, wird die ursprüngliche Zielrichtung der Aktion - auf die versehrte Welt – umgedreht und jetzt richtet sich alles wieder auf ein Publikum aus Menschen zu Hause! Man fühlt sich bestätigt in der Sorge um die Welt, wertschätzt den Einsatz der Künstlerin und hört sich die schöne Musik an. Damit ist sozusagen alles verloren! Bei aller Sympathie für die Künstlerin scheint mir diese Aktion nicht zielführend zu sein. Aber wie sonst kann es gelingen mit Musik und Stimme zur Welt zu sprechen? Das müssen wir herausfinden.
Abgesehen von diesen Bedenken betont die Aktion die strikte Trennung zwischen Kultur und Natur eher als sie aufzuweichen. Die Künstlerin als Teil der kulturellen Sphäre geht hinaus in die Natur, um dort mit einem Produkt der Hochkultur (Bach!) zur Natur zu sprechen und um Verzeihung zu bitten.
Natur und Kultur scheinen hier aufeinander zu treffen. Doch wie wir u.a. in der Auseinandersetzung mit den Thesen von Philippe Descola gesehen haben, spricht vieles dafür, dass die Trennung von Kultur und Natur in zwei scheinbar unabhängige Bereiche Teil und Mitursache des gegenwärtigen ökologischen Desasters darstellt.
(Ich hoffe, es ist klar, dass es mir nicht darum geht, eine Kunstaktion oder gar eine Künstlerin zu kritisieren. Ich nehme das Beispiel auf, um daran mögliche Funken für vocal ecotism zu entzünden!)
(Mit meiner Performance „Das Leiden der Elemente“ im Sommer 2023
http://stimmfeld.de/das-leiden-der-elemente-elemental-sufferin.html
habe ich etwas Ähnliches versucht wie Tanja Tetzlaff. Angelehnt an die katholische Liturgie habe ich ein Schuldbekenntnis stimmlich präsentiert, das sich direkt an die leidenden Elemente richtete. Mir war dabei aber auch wichtig, den Aspekt zu integrieren, dass ich, der Performer, selbst Teil dieser aus Elementen gemachten Welt bin und ihr nicht (nur) gegenüber stehe. Die Performance war ein erster Versuch, da gibt es noch Forschungsarbeit zu tun!)
Aus Italien stammt diese in meinen Augen überzeugendere Variante des Cellospiels gegen die Zerstörung der Welt.
Unser vocal ecotism-Wegbegleiter Albino hat sie mir geschickt, mit diesem Text:
Hi Ralf this is a cellist who plays for hundred
Trees cut down to build a useless bobsleigh track for the olimpic game
English Version
In German television you can watch a program with the title:
Suites for a wounded world/Suiten für eine verwundete Welt
(in 3Sat that is also available in Switzerland and Austria. I am not sure about other countries.)
https://www.3sat.de/kultur/musik/suiten-fuer-eine-verwundete-welt-102.html
The program is announced with this text:
“For the film project "Suites for a Wounded World", cellist Tanja Tetzlaff travels to places where climate change is already a reality. Against this backdrop, she interprets cello suites by Johann Sebastian Bach. Climate change is also having alarming effects in Europe. Shaken by the threat and destruction, Tanja Tetzlaff wants to ask nature for forgiveness with her project.”
At first glance, this is an action that has a lot to do with vocal ecotism. Especially the idea of addressing the world directly with music and voice has proven to be an important expansion of the vocal radius of action in our context, something that was common in earlier cultures and was only marginalised after the strict separation of nature and culture in European naturalism.
However, the result of the cellist Tanja Tetzlaff's action had a rather disappointing effect on me. The problem lies in the fact that the action was turned into a film in which we see the artist sitting in very beautiful images in an impressive setting of melting glaciers, broken coastlines or dead forests, accompanied by the wonderful music of Bach.
The decision to make a film about this in the first place turns the original focus of the action - on the devastated world - around and now everything is once again aimed at an audience of people at home! People feel vindicated in their concern for the world, appreciate the artist's efforts and listen to the beautiful music. In other words, verything is lost! Despite all sympathy for the artist, this action to me does not seem to be effective. But how else can we succeed in speaking to the world with music and voice? We have to find out.
Apart from these concerns, the action emphasises the strict separation between culture and nature rather than softening it. The artist, as part of the cultural sphere, goes out into nature to speak to nature with a product of high culture (Bach!) and ask for forgiveness.
Nature and culture seem to encounter each other here. But as we have seen in the discussion of Philippe Descola's theses, among others, there is much to suggest that the separation of culture and nature into two seemingly independent spheres is part and partly the cause of the current ecological disaster.
(I hope it is clear that I am not intending to criticise an art action or even an artist. I am using this example to ignite possible sparks for vocal ecotism).
(With my performance "The Suffering of the Elements" in summer 2023 http://stimmfeld.de/das-leiden-der-elemente-elemental-sufferin.html
I tried something similar to Tanja Tetzlaff. Based on the Catholic liturgy, I presented a vocal confession of guilt that was addressed directly to the suffering elements. However, it was also important to me to integrate the aspect that I, the performer, am myself part of this world made of elements and am not (only) facing it. The performance was a first attempt, there is still research to be done!)
From Italy comes this, in my opinion, more convincing version of cello playing against the destruction of the world.
Our vocal ecotism companion Albino sent it to me, with these words:
Hi Ralf this is a cellist who plays for hundred
Trees cut down to build a useless bobsleigh track for the olimpic game
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Priska Mielke (Samstag, 09 März 2024 18:17)
Bei mir hat diese Dokumentation auch gemischte Gefühle hinterlassen. Die Cellistin Tanja Tetzlaff wirkte eher wie ein Fremdkörper in den verschiedenen Umgebungen, die, trotz der erkennbaren Zerstörung, noch sehr an die telegene Bildsprache herkömmlicher Natur-Dokus erinnerten. Ein Gedanke, der sich mir beim Hören von Bachs Musik immer wieder aufdrängte, war: Wie ist es möglich, dass wir Menschen einerseits so etwas Wundervolles erschaffen können und andererseits den uns anvertrauten Planeten zugrunde richten - übrigens dieselbe Inkongruenz, die ich angesichts der aktuellen Kriege empfinde. Vielleicht sind wir nicht in erster Linie der Natur, deren Teil wir ja trotz allem sind und bleiben, die Umkehr schuldig, sondern vielmehr uns selbst. Wir leben unter unseren moralischen, ethischen und spirituellen Möglichkeiten. Wenn uns die Beschäftigung mit Kunst und Musik immer wieder darauf stößt, kann sie viel bewirken, ob im Konzertsaal, im Museum oder mitten in der Natur.
Ralf (Montag, 11 März 2024 08:13)
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hallo Priska,
vielen Dank für deinen Kommentar! Ich bin froh zu hören, dass du mein leises Unbehagen über die Dokumentation teilst.
Deine Frage, wie es die Menschheit schafft, einerseits so etwas Wunderbares wie Bachs Musik und andererseit so viel Grauenvolles zu schaffen, lässt aus Sicht von vocal ecotism (die Geschichte mit den Kriegen ist nochmal eine andere) zwei Assoziationen zu: Zum Einen hängen die Dinge irgendwie zusammen: Der Kunstbegriff, der so etwas wie das Werk von Bach ermöglicht hat stammt aus der gleichen Quelle wie der Kapitalismus, der die Natur als auszubeutende Ressource, als Mülleimer und als Erholungsgebiet betrachtet, mit der die Menschen im Prinzip machen können, was sie wollen. Diese Sicht kommt gerade an ihr dramatisiches Ende.
Zum zweiten steckt in der Frage die moderne Trennung von Natur und Kultur als zwei getrennt existierende Bereiche. Hier die menschengemachte Musik, dort die versehrte Natur. Das ist ja auch nicht ganz falsch. Aber unsere Diskussionen führten in die Richtung, dass auch diese moderne, naturalistische Sicht auf die Welt an ihr Ende kommt und wir neue Weisen finden müssen, unser Weltverhältnis zu fomulieren.
Hello Priska,
Thank you for your comment! I'm glad to hear that you share my slight unease about the documentary.
Your question of how humanity manages to create something as marvellous as Bach's music on the one hand and so much horror on the other allows for two associations from the perspective of vocal ecotism (the story with the wars is yet another one): On the one hand, things are somehow connected: The concept of art that made something like Bach's work possible comes from the same source as capitalism, which views nature as a resource to be exploited, a rubbish bin and a recreational area with which people can in principle do whatever they want. This view is just coming to its dramatic end.
Secondly, the question is based on the modern separation of nature and culture as two separate areas. On the one hand, man-made music, on the other, nature that has been damaged. That's not entirely wrong. But our discussions led us in the direction that this modern, naturalistic view of the world is also coming to an end and that we need to find new ways of framing our relationship to the world.