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Spuren lesen und Klänge hören
Überlegungen im Anschluss an das Buch “Philosophie der Wildnis“ von Baptiste Morizot
(Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis -oder- Die Kunst, vom Weg abzukommen, Reclam 2022; original: Sur la Piste Animale, Acte Sud 2018, English: On the Animal Trail, Polity Press 2021) Nebenbei: Der deutsche Titel des Buches ist irreführend. Es handelt sich nicht um eine Philosophie und das Thema ist auch nicht die Wildnis, ein Begriff, der aus verschiedenen Gründen problematisch ist.
Der französische Anthropologe Baptiste Morizot bietet in seinem lesenswerten Buch eine nichtromantische Antwort auf die Frage, wie wir uns mit der Welt und dem, was man in der Moderne Natur nennt, wieder in eine respektvolle und weniger zerstörerische Beziehung bringen kann.
Dafür geht Morizot in die Frühgeschichte des Menschen zurück und versteht im Anschluss an Louis Liebenberg (Liebenberg: The Art of Tracking, PTY 1990) den Moment, an dem die Menschen begannen, Spuren zu lesen als entscheidenden Schritt hin zur Entwicklung des menschlichen Geistes. Der Mensch ist der einzige Primat, der irgendwann vom reinen Pflanzenfresser zum Karnivoren wurde, also mehr oder weniger plötzlich vor die Aufgabe gestellt wurde, Tiere zu jagen, um sie verspeisen zu können. Biologisch ist die Ausstattung des Menschen dafür nicht sonderlich günstig. Anders als viele Jagdtiere besitzen wir keinen gut ausgebildeten Geruchssinn, mit dem wir uns auf die Fährte machen könnten und anders als etwa Raubvögel ist unsere Sehkraft nicht scharf genug, um sehr weit in der Ferne mögliche Beute ausmachen zu können, abgesehen davon, dass wir anders als der Adler oder Bussard nicht aus der unverstellten Vogelperspektive auf den Jagdgrund blicken können.
Die Lösung bestand darin, eine Fähigkeit auszubilden, in der analytische Schärfe mit großer Vorstellungskraft zusammengeführt wurde: Das Spurenlesen. Das war besonders wichtig, weil die erfolgreiche Spielart der Jagd, die von Menschen vor der Erfindung von Pfeil und Bogen oder Steinschleuder betrieben wurde, eine Art langsamer Hetzjagd war. Man folgte einem Tier, das vor der Nähe des Menschen, den es über den Geruchssinn wahrnahm, floh und von diesen menschlichen Jägern verfolgt wurde. Die Jäger oder Jägerinnen kamen dabei erst ganz zum Schluss der Jagd der Beute so nahe, dass sie sichtbar wurde. Vorher waren sie darauf angewiesen, aus Indizien zu schließen, in welche Richtung das Tier sich bewegte. Der Vorteil des Menschen gegenüber den gejagten Tieren besteht darin, dass wir über unseren relativ fellfreien Körper auch bei längerer körperlicher Anstrengung sehr gut die Temperatur regulieren können, große Tiere dagegen auf Dauer wegen der inneren Überhitzung in die Erschöpfung fallen bzw. von den menschlichen Jägern getrieben werden.
Menschen mussten also lernen, aus gewissen Anzeichen Schlüsse zu ziehen über das verfolgte Tier und über die Richtung, die das Tier eingeschlagen hat. Nach Morizots ziemlich überzeugender Argumentation ist hier der Anfang zu finden für die Entwicklung der menschlichen Neugierde und des Forschungsdrangs.
Außerdem könnte man Morizots Ausführungen als Vorgeschichte dessen lesen, was Jacques Derrida in seiner Kritik am Logozentrismus mit den Begriffen Schrift und Spur formuliert. Beide haben nämlich gemein, dass es eine zeitliche Verzögerung gibt, eine Nachträglichkeit, mit der sie gelesen und mit Sinn belegt werden. Die Spur wird gelegt und es vergeht immer eine gewisse Zeit, bis sie gefunden und gelesen wird. Dasselbe stimmt für die Schrift. Zwischen schreiben und lesen herrscht immer ein zeitlicher Abstand. Darauf kann und will ich hier nicht genauer eingehen. Ich erwähne diesen Zusammenhang nur, weil er hilft deutlich zu machen, worauf ich hinaus will.
Mir geht es um die Frage, was diese Überlegungen zur Spur mit vocal ecotism zu tun haben. Den ersten Aspekt habe ich schon erwähnt. Morizot liefert eine Spielart des Weltbezugs, die einerseits poetisch ist, weil sie über das Lesen von Spuren den Dialog mit den lebensweltlichen Bezügen sucht und findet. Gleichzeitig bleibt diese Art des poetischen Weltbezugs nicht im romantischen Blick hängen, der mit der Überbetonung der Ästhetik wieder einen Abstand zur betrachteten Welt schafft.
Mit der Orientierung auf die Frage, wie wir mit Stimme und Gehör einen Zugang zur Welt und allem in ihr finden und kultivieren können, ergibt sich aus den Überlegungen von Morizot eine wichtige Differenz zwischen Suchen/Lesen und Hören/Tönen – eine Differenz, die zugleich darauf verweist, was die besondere Aufgabe der Stimmkunst in der versehrten Welt sein könnte. Damit gehen wir über die Ausführungen Morizots, der sich mit der Stimme nur punktuell beschäftigt, hinaus.
Anders als im Spurenlesen ist die zeitliche Struktur des Hörens nicht von Nachträglichkeit, sondern von Gleichzeitigkeit geprägt. Das Tier, das ich vielleicht noch nicht sehe, lässt sich stimmlich zeitgleich zu meiner Hörerfahrung verlautbaren. Dazwischen gibt es keine zeitliche Distanz. Die Distanz, die mir im Hören deutlich wird ist eine räumliche. Das Tier befindet sich im selben Klangraum wie ich, aber an einem anderen Ort dieses Feldes. Außerdem ist die Begegnung im Klangraum potenziell reziprok. Das Tier dessen Spuren ich lese, nimmt zwar auch mich wahr, aber auf andere Weise, z.B. über den Geruch. Im Klangraum hören die anderen Tiere mich, meine Bewegung auf dem Boden, evtl. meine Stimme und ich kann sogar über stimmliche Aktionen wie die Imitation eines Lockrufes etc. in eine direkte Interaktion mit dem Tier treten. Dieser letzte Aspekt weist allerdings wieder auf eine Prägung durch die Jagdlogik hin, die eigentlich zur Praxis des Spurenlesens gehört. Die Jäger versuchen ja in der Regel gerade keine klanglichen Spuren zu setzen, um nicht zu früh entdeckt zu werden. Der Klangraum, in dem ich mich hörend und eventuell stimmlich agierend bewege, ist aber ursprünglicher als die Jagd und existiert unabhängig davon. Erlaubt die hörend-tönende Kontaktaufnahme mit einem Ort, einer lebendigen Landschaft und ihren Bewohnern eine friedlichere Verbindung? Kann es sein, dass die verzögerte Wahrnehmung der Anzeichen, die ich in einer Situation finde und lese, dass immer auch die Überreste eines Jagdinstinkts geweckt werden? Ist es der Hörsinn, der in mir die Zusammengehörigkeit mit den nichtmenschlichen Wesen aufruft, ohne dass ich diese Wesen beherrschen, jagen oder bekämpfen will? Auch wenn diese Fragen womöglich zu weit in die Spekulation führen, bleibt der Unterschied in der Zeiterfahrung. Nur hörend bin ich in der Gleichzeitigkeit der Situation wahrnehmend und agierend präsent. Das ist die Qualität, die wir stimmkünstlerisch nutzen können, um eine neue Weise der Verbundenheit mit der Welt zu entdecken, die nicht mehr den Fehlern des modernen Naturalismus anhängt und nicht einfach nostalgisch in alte Weltzugänge zurückfällt.
(hinzugefügt am 18.6.24:)
Für künstlerische Aktionen im Rahmen von vocal ecotism ergibt sich daraus der Vorschlag, die Sphäre der Gleichzeitigkeit, die im gemeinsamen Hör- und Klangraum gegeben ist, zur Ausgangssituation zu machen. Da sind wir mit der Performance Art schon auf dem richtigen Weg, denn die Performance benötigt in der Regel die Live-Situation. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, das wäre in der Musik und im Theater ebenfalls ohne weiteres der Fall. Doch in diesen Feldern gibt es interessante Einschränkungen. Das Theater erschafft sich seine eigene Zeit und sofern es auf der Bühne stattfindet, auch seinen eigenen Ort. Er ist nicht eingebunden in den größeren Zusammenhang und versucht, externe Klänge soweit es geht, aus der Situation rauszuhalten. Es erschafft eine künstlich-künstlerische Sphäre. Dafür gibt es gute Gründe und daran ist auch nichts falsch. Nur für vocal ecotism scheint mir das kein guter Ansatzpunkt zu sein. Wir suchen den Weltbezug und wollen ihn gerade nicht aus unserer Kunst ausschließen. Noch ist nicht klar, wie genau das gelingen kann. Aber in der Performance Art arbeiten wir in der Regel in der gegebenen Zeit; Kunst und sogenannte Realität treffen sich in der Gleichzeitigkeit, die sie als Strukturelement teilen.
Auch die Musik als Konzert ist nicht ohne weiteres eingebunden in die Weltbezüge. Der Konzertraum ist der Stein gewordene Versuch, alle sogenannten störenden Geräusche zu eliminieren und alle erwünschten Klänge in höchster Reinheit in den Klangraum zu lassen. Eine im höchsten Maße künstliche Situation! (die auch in open air Veranstaltungen nicht überwunden wird. Da wird einfach die Musik so verstärkt, dass von der Umgebung keine Klänge mehr wahrnehmbar sind – abgesehen vom rauschenden Applaus).
Jedenfalls wird es für eine künstlerische Arbeit in den Feldern Theater und Musik wichtig sein, dass wir an den Aspekten anknüpfen, die eine Gleichzeitigkeit in sich tragen. Wichtigster Anknüpfungspunkt ist für uns die menschliche Stimme, die auch unabhängig von den Strukturen der Nachträglichkeit, wie sie durch die vorgegebene Musik oder den Text auftreten, im Klang den direkten gleichzeitigen Bezug zum Gehör eröffnen.
Reading Traces and Listening to Sound
Reflections following the book "On the Animal Trail" by Baptiste Morizot
(Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis -oder- Die Kunst, vom Weg abzukommen, Reclam 2022; original French: Sur la Piste Animale, Acte Sud 2018, English: On the Animal Trail, Polity Press 2021)
In his book, which is well worth reading, French anthropologist Baptiste Morizot offers a non-romantic answer to the question of how we can re-establish a respectful and less destructive relationship with the world and what we in modern times call nature.
To this end, Morizot goes back to the early history of man and, following Louis Liebenberg (Liebenberg: The Art of Tracking, PTY 1990), he understands the moment when humans began to read tracks as a decisive step towards the development of the human spirit. Humans are the only primates that at some point went from being purely herbivores to carnivores, i.e. were more or less suddenly faced with the task of hunting animals in order to eat them. Biologically, humans are not particularly well equipped for this. Unlike many hunting animals, we do not have a well-developed sense of smell with which we could track animals and, unlike birds of prey, for example, our eyesight is not sharp enough to spot potential prey very far away, apart from the fact that, unlike the eagle or buzzard, we cannot see the hunting ground from an unobstructed bird's eye view.
The solution was to develop a skill that combined analytical acuity with great imagination: Tracking. This was particularly important because the successful form of hunting practised by humans before the invention of the bow and arrow or slingshot was a kind of slow chase. One followed an animal that fled from the proximity of humans, which it perceived through its sense of smell, and was chased by these human hunters. The hunters only came close enough to the prey to make it visible at the very end of the hunt. Before that, they had to rely on clues to deduce the direction in which the animal was moving. The advantage of humans over the hunted animals is that we can regulate our temperature very well with our relatively fur-free bodies, even during prolonged physical exertion, whereas large animals fall into exhaustion in the long term due to internal overheating or are driven into exhaustion by the human hunters.
Humans therefore had to learn to draw conclusions from certain signs about the pursued animal and the direction the animal had taken. According to Morizot's rather convincing argument, this is the beginning of the development of human curiosity and the urge to explore.
Morizot's remarks could also be read as a prehistory of what Jacques Derrida formulates in his critique of logocentrism with the concepts of writing and trace. Both have in common that there is a temporal delay, an after-effect with which they are read and given meaning. The trace is laid and a certain amount of time always passes before it is found and read. The same is true for writing. There is always a time lag between writing and reading. I cannot and will not go into this in detail here. I only mention this connection because it helps to make clear what I am getting at.
I am concerned with the question of what these considerations about the track have to do with vocal ecotism. I have already mentioned the first aspect. Morizot provides a way of relating to the world that is poetic on the one hand, because it seeks and finds a dialogue with references to the real world by reading traces. At the same time, this type of poetic reference to the world does not get caught up in the romantic gaze, which, by overemphasising aesthetics, once again creates a distance to the world observed.
By focussing on the question of how we can use our voice and hearing to find and cultivate access to the world and everything in it, Morizot's reflections reveal an important difference between searching/reading and listening/sounding - a difference that also points to what the special task of vocal art could be in the wounded world. In this way, we go beyond Morizot's remarks, which deal with the voice only occasionally.
In contrast to tracking, the temporal structure of hearing is characterised by simultaneity rather than posteriority. The animal that I may not yet see can vocalise at the same time I hear it. There is no temporal distance in between. The distance that becomes clear to me while listening is a spatial one. The animal is in the same sound space as I am, but in a different place within this field. Moreover, the encounter in the sound space is potentially reciprocal. The animal whose tracks I am reading also perceives me, but in a different way, e.g. through smell. In the sound space, the other animals hear me, my movement on the ground, possibly my voice and I can even enter into a direct interaction with the animal via vocal actions such as imitating a lure call, etc. However, this last aspect again points to an imprint of hunting logic, which is actually part of the practice of tracking. As a rule, hunters try not to leave any sonorous tracks so as not to be discovered too early. However, the sound space in which I move, listening and possibly vocalising, is more primal than hunting and exists independently of it. Does making contact with a place, a living landscape and its inhabitants through hearing and sound allow for a more peaceful connection? Could it be that the delayed perception of the signs that I find and read in a situation always awakens the remnants of a hunting instinct? Is it the sense of hearing that calls up in me the affiliation with non-human beings without me wanting to dominate, hunt or fight these beings? Even if these questions may lead us too far into speculation, the difference remains in the experience of time. Only by listening am I present in the simultaneity of the situation, perceiving and acting. This is the quality that we can use in vocal art to discover a new way of connecting with the world that no longer clings to the errors of modern naturalism and does not simply fall back nostalgically into old approaches to the world.
(added 18th June 24:)
For artistic actions within the framework of vocal ecotism, there is the suggestion to make the sphere of simultaneity, which is given in the shared listening and sound space, the starting point. We are already on the right track with performance art, because performances generally require the live situation. At first glance, one might assume that this would also easily be the case in music and theatre. But there are interesting limitations in these fields. Theatre creates its own time and, if it takes place on stage, also its own place. It is not integrated into the larger context and tries to keep external sounds out of the situation as far as possible. It creates an artificial, artistic sphere. There are good reasons for this and there is nothing wrong with it. But for vocal ecotism it doesn't seem to me to be a good starting point. We are looking for a connection to the world and don't want to exclude it from our art. It is not yet clear how exactly this can be achieved.
But in performance art we usually work in the given time; art and so-called reality meet in the simultaneity that they share as a structural element.
Even music as a concert is not easily integrated into references to the world. The concert hall is the attempt, turned to stone, to eliminate all so-called disturbing noises and to allow all desired sounds into the sound space in the highest purity. A highly artificial situation! (which is not even overcome in open air events. The music is simply amplified so that no sounds from the surroundings are perceptible - apart from the roaring applause).
In any case, it will be important for artistic work in the fields of theatre and music that we tie in with aspects that carry a simultaneity within them. For us, the most important point of contact is the human voice, which opens up a direct simultaneous reference to the ear in sound, regardless of the structures of post-compatibility, as they occur through the given music or text.
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